Im Zuge eines größeren Konservierungsprojekts stieß ich in einem Buch aus den 1920er Jahren auf einen schmalen Zettel in Frakturschrift – eingelegt von der Buchbinderei, vermutlich direkt nach der Neuanfertigung. Was auf den ersten Blick wie eine höfliche Gebrauchsanweisung wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als bemerkenswertes Dokument buchbinderischer Praxis und konservatorischer Erfahrung.

Zur Beachtung!
Neu angefertigte Bücher müssen zur Schonung in den ersten Wochen mit Vorsicht behandelt werden; sie dürfen nicht nach Gebrauch offen an der Luft liegen bleiben und müssen möglichst beschwert aufbewahrt werden. Bei Nichtbeachtung dieser Vorschrift krümmen sich sehr leicht die Deckel, das Papier wird wellig und ist in solchen Büchern ein schlechtes Arbeiten. Auch die Haltbarkeit des Einbandes, besonders bei großen Büchern, wird hierdurch wesentlich beeinflußt.
Der beste Aufbewahrungsort ist ein trockener, kühler Raum, solange die Bücher nicht in Gebrauch genommen werden, und sollen diese außerdem eingepackt bleiben. Falls sie jedoch gleich nach Erhalt in Benutzung genommen werden müssen, so legt oder stellt man sie in den Zwischenzeiten am besten stramm zwischen andere Bücher, wenn möglich in einen verschlossenen Schrank.
Der schlechteste Platz zur Aufbewahrung ist in der Nähe eines Ofens, einer Zentralheizung, einer warmen Schornsteinwand oder in geheizten Räumen frei auf dem Tisch. Ein neues Buch den Sonnenstrahlen ausgesetzt, kann in ein paar Stunden gründlich verderben. (Absatz)Die beste Gewähr für gute Bücher bietet eine lange Lieferfrist, da dadurch Gelegenheit geboten ist, schon während der Herstellung der Bücher das erforderliche langsame Trocknen zum größten Teil in der Presse zu ermöglichen.
Beim Öffnen der Bücher schlage man stets zuerst den Vorderdeckel, und darauf erst die Blätter um. Dicke Bücher mit kräftig federndem Sprungrücken dürfen nicht von der Mitte aus geöffnet werden, bevor nicht ein Deckel umgelegt ist, da sonst selbst die beste Heftung leidet.
Diese Hinweise sind aus heutiger Sicht erstaunlich stimmig. Sie beschreiben genau das, was wir auch heute noch als konservatorische Grundsätze vertreten: Schonung frischer Bindungen, Schutz vor Licht, Hitze und Feuchtigkeit, kontrollierte Lagerung, beschwerte Aufbewahrung. Und doch ist der Ton des Textes nicht museal, sondern pragmatisch – es geht nicht um Ideale, sondern um Reklamationsvermeidung. Die Buchbinderei wusste: Ein frisch gebundenes Buch enthält noch Restfeuchte. Wird es ungeschützt in der Sonne liegen gelassen oder offen aufgeschlagen in einem warmen Raum vergessen, verziehen sich Deckel und Papier – und der Kunde reklamiert.
Besonders interessant ist der Hinweis auf das richtige Öffnen von Büchern mit „kräftig federndem Sprungrücken“. Gemeint ist hier vermutlich ein sogenannter Sprungdeckelband – eine Bindetechnik, bei der der Rücken besonders steif und gebrochen ist, sodass man beim Öffnen der Deckel einen leichten Widerstand verspürt. Diese Konstruktion ermöglicht ein planliegendes Aufschlagen, ist aber empfindlich gegenüber falscher Handhabung. Wer ein solches Buch in der Mitte aufreißt, bevor der Deckel umgelegt ist, riskiert Schäden an der Heftung. Auch das ist heute noch relevant – nicht nur für Restaurator:innen, sondern für alle, die mit historischen Geschäftsbüchern, Registern oder großformatigen Bänden arbeiten.
Der Zettel erinnert daran, dass viele unserer heutigen konservatorischen Standards nicht erst mit der modernen Restaurierung entstanden sind. Sie wurzeln im Handwerk, in Erfahrung, Materialkenntnis – und in der klugen Beobachtung von Ursache und Wirkung. Vielleicht ist es an der Zeit, solchen historischen Stimmen wieder mehr Gehör zu schenken.
